Dieses Buch war für mich ein eher zwiespältiges Leseerlebnis. Inhaltlich hat mich das Buch nicht ganz überzeugt, auch wenn ich den literarischen Wert durchaus anerkenne.
Worum geht’s?
Walter Faber ist ein rationaler, logisch denkender Ingenieur – ein Mann der Vernunft, der nichts mit Gefühlen oder Zufällen anfangen kann. Auf einer Geschäftsreise von New York aus gerät er in Turbulenzen: Das Flugzeug muss notlanden, und aus dieser ungeplanten Unterbrechung entwickelt sich eine Kette von Begegnungen und Ereignissen, die sein Leben grundlegend verändern.
Im Verlauf der Reise lernt Faber die junge, lebhafte Sabeth kennen. Zwischen den beiden entsteht eine Beziehung, die sich zu einer Affäre entwickelt. Später stellt sich heraus – Achtung, Spoiler – dass Sabeth die Tochter seiner ehemaligen großen Liebe Hanna ist, und dass Faber selbst Sabeths leiblicher Vater ist.
Was mir gut gefallen hat:
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Die letzten Kapitel sind hervorragend geschrieben – tiefgründig, bewegend und philosophisch.
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Max Frisch hat einen präzisen, klaren Stil, der technische Nüchternheit mit intellektueller Reflexion verbindet.
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Der Roman ist ein Stück Literaturgeschichte und thematisiert zentrale Fragen nach Identität, Schicksal und Verantwortung.
Was mir nicht so gut gefallen hat (Achtung, Spoiler):
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Die Figuren handeln aus meiner Sicht teils unlogisch. Fabers Verhalten, als rationaler Mensch eine Beziehung mit einer Frau einzugehen, bei der er ahnt, dass sie seine Tochter sein könnte, ist für mich persönlich schwer nachvollziehbar und ethisch zumindest sehr fragwürdig...
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Auch Hannas Reaktion, als sie von der Beziehung erfährt, bleibt seltsam "blutleer". Angesichts der Tragik – Tod der Tochter und Inzest – wirkt ihre Gefühllosigkeit auf mich irgendwie unrealistisch und irritierend.
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Der Text enthält aus heutiger Sicht zahlreiche sexistische und rassistische Passagen, die beim Lesen unangenehm auffallen. Besonders störend ist eine Szene, in der das N-Wort verwendet und eine Reinigungskraft auf abwertende Weise beschrieben wird.
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Das Frauenbild ist stark vom Denken der 1950er Jahre geprägt (klar, das Buch ist in dieser Zeit geschrieben, versteh ich schon): Emotionen bei Männern gelten als „weibisch“, Gefühle bei Frauen als „hysterisch“.
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Und ein augenzwinkernder Zusatz: Ich habe selten ein Buch gelesen, in dem so oft das Wort „obschon“ vorkommt. Ich mag das Wort zwar gerne, aber es wurde wirklich oft verwendet. ;-)
Zur Sprache
Frischs Sprache ist präzise, kontrolliert und spiegelt den Charakter seines Protagonisten wider. Das macht den Roman sprachlich anspruchsvoll, aber auch stellenweise distanziert. Sein Stil ist klar und elegant, jedoch eher intellektuell als emotional.
Themen, Tropes & Trigger
- Tropes: Rationalität vs. Emotion, Schuld und Verantwortung, Reise als Selbstkonfrontation
- Themen: Schicksal, Zufall, Identität, Inzest, Tod, Reflexion über das Leben
- Triggerwarnungen: Inzest, Tod, sexistische und rassistische Sprache
Fazit
Homo Faber ist ein Klassiker der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur – sprachlich präzise, thematisch relevant, aber emotional "kalt". Für mich persönlich war das Leseerlebnis durch die für mich nicht ganz nachvollziehbaren Figurenentscheidungen und das veraltete Weltbild getrübt. Gleichzeitig sind die letzten Kapitel herausragend und lohnen sich allein schon für den reflektierten Blick auf Vergänglichkeit und Menschlichkeit. Insgesamt ein lesenswertes, aber streckenweise schwieriges Buch – ein Klassiker, den man (so wie fast alles) kritisch lesen sollte.
Zum Autor
Max Frisch (1911–1991) war ein Schweizer Schriftsteller, Dramatiker und Architekt. Zu seinen bekanntesten Werken zählen „Stiller“, „Andorra“ und „Homo Faber“. Seine Texte befassen sich häufig mit Identität, Selbsttäuschung und moralischer Verantwortung.
Informationen zum gelesenen Buch:
Homo Faber von Max Frisch
1976, Suhrkamp Verlag
Erstausgabe 1957
253 Seiten

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