Berührende Lebensgeschichte in poetischer Klarheit – ein kleines Meisterwerk
5/5 Sterne
Handlung (enthält Spoiler):
Im Zentrum der Erzählung steht Andreas Egger, dessen Leben Seethaler in unaufgeregter, aber ergreifender Weise nachzeichnet. Als Waise wird der Protagonist im Alter von vier Jahren von einem Bauern aufgenommen und als Hilfsknecht großgezogen. Entbehrungen, Gewalt und Einsamkeit prägen seine Kindheit und Jugend, doch Egger entwickelt sich trotz allem zu einem starken, jungen Mann mit einem ganz eigenen Blick auf die Welt. Er verlässt den Hof und findet Arbeit bei einem Unternehmen, das die erste Seilbahn im Tal errichtet. Seine Liebe zu Marie, die er heiratet, schenkt ihm ein kurzes Glück, bis er sie durch ein tragisches Unglück verliert, das er selbst nur knapp überlebt. Nach seinem Einsatz im Zweiten Weltkrieg und der Kriegsgefangenschaft kehrt er Jahre später in die Heimat zurück und verbringt den Rest seines Lebens als Bergführer für Touristen. Im Alter schaut Egger oft auf sein Leben zurück und empfindet eine stille Zufriedenheit:"Und wenn er in den Tagen nach der ersten Schneeschmelze morgens über die taunasse Wiese vor seiner Hütte ging und sich auf einen der verstreuten Flachfelsen legte, in seinem Rücken den kühlen Stein und im Gesicht die ersten warmen Sonnenstrahlen, dann hatte er das Gefühl, das vieles doch gar nicht so schlecht gelaufen war."
Stil & Wirkung:
Trotz der scheinbaren Einfachheit des Plots gelingt es Seethaler, auf nur 189 Seiten das Leben seines Protagonisten in einer Weise darzustellen, die sowohl in ihrer Intensität als auch in ihrer Wahrhaftigkeit überzeugt. Der knappe Umfang des Romans stellt dabei keine Begrenzung dar – vielmehr zeugt Seethalers Erzählkunst von einer fast schon meisterhaften Verdichtung, die Essentielles herausarbeitet, ohne dabei an Tiefe zu verlieren.Besonders bemerkenswert ist, wie es dem Autor gelingt, Andreas Egger als Figur lebendig und authentisch wirken zu lassen. Seethaler gibt ihm eine Sprache und Gedankenwelt, die stimmig zum historischen Kontext und zur ländlichen Umgebung passen. Der Protagonist bleibt durchweg glaubwürdig, plastisch und greifbar.
Ein weiteres Highlight des Romans ist die atmosphärische Dichte, die Seethaler erschafft. Seine Schilderungen sind von poetischer Klarheit, die den Leser das karge, aber faszinierende Bergleben und die schlichte Existenz Eggers mit allen Sinnen erfahren lässt. Diese Bildhaftigkeit schafft es, dem Roman trotz seiner Kürze eine beeindruckende Tiefe und Lebendigkeit zu verleihen.
Fazit:
„Ein ganzes Leben“ ist ein stilles, aber kraftvolles Porträt eines Lebens, das durch Entbehrung und Verlust geprägt ist, jedoch auch Momente von Schönheit und Glück birgt. Robert Seethaler beweist hier eindrucksvoll, wie man große Themen wie Liebe, Verlust und das Altern in eine schlichte, aber kunstvolle Sprache kleiden kann. Ein literarisches Werk, das noch lange nachhallt.Meine gelesene Ausgabe:
"Ein Ganzes Leben", von Robert Seethaler, Goldmann Verlag, 2016
(ISBN: 978-3442482917)
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