Ein einfühlsamer, intelligenter und raffiniert geschriebener Roman über das Leben und Lieben einer Frau unserer Zeit.
5/5 Sterne
Handlung
Helene ist Ende 40, beruflich erfolgreich, hat zwei jugendliche Kinder und ist seit über 20 Jahren mit ihrem Mann Georg zusammen, der sie vor kurzem für eine jüngere Frau verlassen hat. Doch wer sich jetzt allzu schnell ein Urteil bildet, wird in diesem Roman schnell eines Besseren belehrt: Helene ist seit ihrer Studienzeit in Alex verliebt, den sie auch während der Ehe immer wieder trifft und sich mit ihm einige Male gefährlich nahe an die Grenze des Treuebruchs bewegt. Georg erzählt sie nichts - er weiß nicht einmal, dass Alex existiert. Ausgelöst von der Trennung begibt sich Helene auf eine erkenntnisreiche und auch schmerzvolle Reise in die Vergangenheit und ihr Inneres - die verworrene Beziehung zu Alex, die toxische Beziehung zu ihrer Mutter, ihre eigene Rolle als Mutter... vieles bahnt sich nun seinen Weg an die Oberfläche und wird von Helene aufgearbeitet.
Schreibstil
Der Roman ist in der Ich-Perspektive von Helene und phasenweise von ihrer Tochter Anna erzählt. Die Autorin hat einen sehr detailreichen, dennoch flüssig-lebendigen Schreibstil und schafft es hervorragend, die Figuren authentisch zum Leben zu erwecken. Vor allem in die weibliche Psyche von Helene und Anna erhalten wir einen tiefen, einfühlsamen und vor allem auch selbstehrlichen Einblick. Die Komplexität und Vielfältigkeit menschlicher Gefühle, Motivationen und Bestrebungen werden sehr gut herausgearbeitet, sodass kein Charakter nur "gut" oder "böse" ist, sondern - so wie im Leben auch - tiefgründige und vielschichtige Figuren geschaffen werden. Besonders gelungen ist der Perspektivenwechsel von Mutter Helene zu Tochter Anna, der nahtlos und nachvollziehbar ist.
Zeitsprünge
Als kleines Manko empfinde ich persönlich die allzu vielen Zeitsprünge, die teilweise nicht einfach nachzuvollziehen waren, vor allem weil in manchen Rückblicken NOCHMALS weiter zurückgesprungen wird (also ein Rückblick im Rückblick). Hier wäre eine klarere Zuordnung, beispielsweise in den Kapitelüberschriften, hilfreich gewesen.
Fokusthema
Viele RezensentInnen haben betont, dass es hier vor allem auch darum geht, die hohen Anforderungen zu thematisieren, die an die moderne Frau gestellt werden: Beruf, Kinder, Haushalt und Privatleben sollen unter einen Hut gebracht werden. Auch wenn es durchaus wahr ist, dass dies Teil des Alltags unserer Protagonistin ist, liegt in meinen Augen der Fokus des Buches jedoch stärker auf dem Prozess der Identitätsfindung, der wiederum sowohl die weiblichen wie die männlichen Figuren des Romans betrifft. Woher weiß ich, wer ich bin? Wie grenze ich mich von den Erwartungen anderer ab? Wie mache ich mich frei, alles zu fühlen? Was sind meine wahren Bedürfnisse und wie kann ich sie erfüllen? Wie kann ich radikal ehrlich mit mir selbst sein und dadurch anderen authentisch begegnen?
Eventuelle Triggerthemen:
- Trennung/Ehebruch/Eifersucht
- Toxisches Verhältnis zur Mutter
- Vernachlässigung/Misshandlung als Kind
- Vulgäre Sprache
- Tod/Verlust eines nahen Angehörigen
- Fehlgeburt/unerfüllter Kinderwunsch
Fazit
Ein feinfühliger, kluger, berührender Roman über eine Frau auf der Reise zu sich selbst.
Meine gelesene Ausgabe
"Lügen, die wir uns erzählen", von Anne Freytag, Kampa Verlag, 2024
(ISBN: 978-3311101178)
(ISBN: 978-3311101178)

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